Tallinn Marathon – Laufen in Estland

Tallinn Marathon – Ein Wochenende in Estland

Tallinn Marathon. Zu Gast im Weltkulturerbe. Estland ist nach Lettland das zweite Land der drei baltischen Staaten, welches wir anlässlich eines Marathonlaufs bereist haben. Ein Erlebnisbericht.

Zu Gast im Weltkulturerbe

Estland ist nach Lettland das zweite Land der drei baltischen Staaten, welches Gisela und ich anlässlich eines Marathonlaufs bereist haben. Das nördlichste Land des Baltikums grenzt im Süden an Lettland, im Osten an Russland und im Norden und Westen an die Ostsee. Über den Finnischen Meerbusen erreicht man in nur 80 Kilometern Helsinki. Estland hat rund 1,3 Millionen Einwohner, rund ein Drittel davon lebt in der Hauptstadt Tallinn.

Wenngleich der Tallinn Marathon im Jahr 1989 erstmals veranstaltet wurde, so hat Estland eine deutlich längere Marathongeschichte. Ich denke hier vor allem an Jüri Lossmann. Jüri erreichte bei den Olympischen Sommerspielen 1920 in Antwerpen Silber im Marathonlauf für die damalige Republik Estland (1918 bis 1940). Jüri Lossmann benötigte für die Strecke 2:32:48 Stunden und kam damit nur 13 Sekunden hinter dem finnischen Läufer Hannes Kolehmainen ins Ziel. Dass die „fliegenden Finnen“ in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eine weltweit herausragende Bedeutung im Laufsport hatten, habe ich bereits in meinem Bericht über den Helsinki Marathon beschrieben, den ich August 2023 gelaufen bin.

In die Marathon Fußstapfen Lossmanns traten in den vergangenen Jahrzehnten bei den Männern vor allem Rekordhalter Pavel Loskutov (2:08:53 h, Paris 2002) und Tiidrek Nurme, der 2020 in Sevilla 2:10:02 Stunden lief oder auch Roman Fosti, der zum Beispiel den Tallinn Marathon 2018 gewann. Auch dieses Jahr war er am Start und finishte als erster Europäer hinter den afrikanischen Eliteläufern. International die bekanntesten estnischen Marathonläuferinnen sind sicher Liina, Leila und Lily Luik, die als eineiige Drillinge bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro das Marathonteam Estlands stellten. Liliy Luik erreichte das Ziel in 2:48:29 Stunden und Leila nach 2:54:38 Stunden. Die dritte im Familienbunde, Liina, ist zwar gestartet, hat den Marathon aber nicht beendet.

In diesem Jahr stand der Tallinn-Marathon ganz im Zeichen des 105-jährigen Bestehens der Republik Estland. Start und Ziel sind am Rande der Altstadt, die zum UNESCO Welterbe zählt. Und das nicht ohne Grund. Die wunderbare Altstadt gilt mit ihrer gut erhaltenen Stadtmauer, zahlreichen Türmen, alten Häusern und den Kopfsteinpflasterstraßen als eine der am besten erhaltenen mittelalterlichen Städte Europas. Auch aus diesem Grund ist der Hafen von Tallinn einer der verkehrsreichsten Kreuzfahrthäfen Nordeuropas. Wie ich hörte, landen jährlich 350 Kreuzfahrtschiffe in der estnischen Hauptstadt und sorgen für viel Trubel gerade in der Altstadt. Wer das Glück hat, wie Gisela und ich nicht nur Tagestourist zu sein, meidet die Altstadt zu den Stoßzeiten und gönnt sich die Stadt am frühen Morgen und am Abend. 

Der Tallinn Marathon 2023

Mit einem 5 km Rennen am Freitag, Halbmarathon und 10 Kilometer am Samstag und dem Marathon am Sonntag ist der Tallinn Marathon, gemessen an der Teilnehmerzahl, das größte Sportereignis Estlands. Gisela war samstags über die Halbmarathondistanz am Start und sie war angespannter als sonst. Würden die Füße durchhalten?

Anfang Mai spürte Gisela erste Schmerzen am Fuß, Schmerzen, die sich später als Symptome einer Plantarfasziitis herausstellten. Dennoch lief sie, in ihrer langen Karriere als Hobbyläuferin bisher völlig unerfahren mit Verletzungen, den Halbmarathon im Rahmen des Riga Marathons. Sie finishte, doch anschließend lief gar nichts mehr. Physiotherapeuten bestätigten später eine Entzündung der Plantarfasziitis und der beste Ratschlag unter vielen Therapievorschlägen war absolute Laufpause. Ende Juni, nach fünf Wochen Laufpause, begann der Wiedereinstieg ins Lauftraining. Mit einem Wendepunktlauf über 5 Minuten. Zweieinhalb hin, zweieinhalb zurück, im für Gisela bis dahin ungewohnten Mittelfußlaufstil. Mitte Juli, nach zwei Wochen Italien-Urlaub konnte Sie bereits 30 Minuten durchhalten. Das erste Mal 10 Kilometer lief sie Mitte August in Helsinki, die ersten 15 Kilometer Anfang September. Kondition war nie das Problem, es galt darum Fuß- und Wadenmuskulatur auf ein ähnliches Niveau zu bringen wie der Rest des Bewegungsapparates. Und nun der erste Halbmarathon. Glücklich schaffte sie das Ziel. Und: Füße und Beine waren müde, haben den Halbmarathon aber gut überstanden. Für mich ein Höhepunkt des Wochenendes. 

Mein Marathonlauf in Tallinn

In diesem Jahr befanden sich Start und Ziel des Tallinn-Marathons am Fuße des Turms "Langer Hermann". Nur 100 Meter von unserem Hotel Park Inn by Radisson Meriton entfernt. Perfekt gelegen reichten 15 Minuten, um entspannt zum Startbereich zu kommen und sich im zugewiesenen Bereich einzugruppieren. Sogar das Animationsprogramm mit Lockerungsübungen konnte ich noch mitmachen.

Leider hatten wir in den Vortagen nicht herausgefunden, wie man den Langen Hermann besteigen konnte, ein Turm von großer Bedeutung für die Esten. Der Hermannsturm gilt als das Symbol der estnischen Unabhängigkeit. Jeden Tag bei Sonnenaufgang wird die estnische Flagge zu den Klängen der Nationalhymne über dem Turm gehisst und zum Sonnenuntergang heruntergezogen.

Die Nationalhymne erklang auch zum Start und, einer kleinen Rampe gleich, führten die ersten Meter "leicht" bergab, wobei die letzten 100 Meter auch "steil" bergauf führen sollten. Egal, es ging ja ins Ziel. Doch auf den 42,195 Kilometern dazwischen lagen nur etwa 100 Höhenmeter, der Tallinn Marathon kann damit als flach bezeichnet werden.

Die Strecke führt durch die Innenstadt und einige Außenbezirke, verkehrsberuhigt, abschnittsweise durch schöne Naturoasen. Doch wegen der Strecke wird sicher niemand wiederkommen. Es ist das Gesamtpaket Tallinn Marathon, das überzeugt, von der perfekten Organisation, über das breite läuferische Angebot, die gute Verpflegung an der Strecke bis hin zu den hübschen Finisher-Medaillen, dazu später mehr.

Ich gruppierte mich irgendwo zwischen die Pacemaker für die Zielzeiten 3:30 und 3:45 Stunden ein und sollte beide Ballons den Rest des Rennens nicht mehr sehen. Zunächst lief ich sehr zurückhaltend an. Das Foto zeigt mich 200 Meter nach dem Start.

Tallinn Marathon 2023 – Ein Wochenende in Estland

Bei etwa Kilometer 5 liefen wir am populären Marine Museum mit Wasserflugzeughafen entlang. Hier liegt auch "Suur Tõll", der größte dampfgetriebene Eisbrecher der Welt. Für den Montagvormittag nach dem Rennen hatten wir bereits eine Besichtigung ins Auge gefasst. 

Die Strecke führte zweimal am Stroomirand, einem sandigen Badestrand, entlang nach etwa 10,5 und 34,5 Kilometern. Auch am Tallinner Zoo liefen wir nach etwa 15 Kilometern vorbei. Zu dieser Zeit kam auch ein Zweiergespann Läuferinnen an mir vorbei, etwas schneller als der Rest des Feldes. Die Dunkelhaarige lief vorne, die Blonde an ihren Fersen, ich empfand dies als Einladung und rannte hinterher. Wenngleich nur wenige Sekunden pro Kilometer schneller, so erhöhte sich auch meine Herzfrequenz. Ursprünglich wollte ich die ersten 30 Kilometer im LDL-Bereich laufen, ich rutschte in den MDL-Bereich. Aber egal, der Lauf machte mir Freude. Ab sofort waren wir die Überholenden in unserem Umfeld, ich vermute, die zwei waren auf die Geschlechtsgenossinnen aus. Gedanklich zählte auch ich mit.

An der Verpflegungsstation bei Kilometer 24 nahm ich das erste von drei Gels. Die zwei übrigen folgten bei Kilometer 28 und 32, so geplant, um die letzten 10 Rennkilometer dann im Marathonrenntempo etwas lockerer laufen zu können. An der Verpflegungsstation bei Kilometer 24 verabschiedete sich die erste meiner beiden Pacemakerinnen, die Dunkelharrige. Ich entnahm ihrer Körperhaltung, es sollte für den Rest des Rennens ein. "Schade" dachte ich, das Tempo war prima. Kurzentschlossen rief ich der Blonden zu: „Ich war einige Kilometer hinter euch“. „Ja, ich erkenne dich“. „Nun übernehme ich bis Kilometer 32. Lass uns ein paar weitere Läuferinnen fangen“. Und so geschah‘s. Die Blonde nahm die Einladung dankend an, und wie ein Schatten lief nun sie hinter mir her. Es waren die Kilometer im Rennen, die gefühlt am kurzweiligsten waren. Nach 31 Kilometern streifen wir das Estnische Freilichtmuseum "Rocca al Mare", wenig später kam die angepeilte Verpflegungsstation Kilometer 32, ein letztes Gel schluckte ich herunter. Ich ließ mich zurückfallen, wir grinsten uns an. „Ich bin Andreas“. „Ich bin Eira“. „Ich muss jetzt weg“. Und so geschah’s. Wie bei den langen Trainingsläufen zuvor plante ich, die letzten Kilometer im Marathonrenntempo (4:30 min/km) zu laufen. Nach 6 Kilometern beim vorletzten Mal und 8 Kilometern am vorigen Sonntag sollten nun 10 Kilometer folgen. Doch diesmal war dies nicht möglich. Das Intermezzo mit den Mädels hatte mich zu viele Körner gekostet, statt LDL oder MDL bin ich in den ZDL-Bereich reingerutscht, für einen OLALA deutlich zu schnell. Es wurden schließlich acht Kilometer in 4:45 min/km und zwei weitere im 5er-Schnitt.

Der letzte Kilometer des Tallinn-Marathons führte wieder an der prächtigen Stadtmauer entlang. Die letzten 100 Meter hoch Richtung Hermann, den frenetischen Jubel der Zuschauer im Zielkorridor nahm ich dankend an. Ein kurzes Interview mit einem Kameramann, dann die ersehnte Medaille. Das war der Tallinn-Marathon, mein 193. Marathon und vor allem das 20. Land, in dem ich einen Marathon laufen durfte. Ach ja, ich vergaß: 3:35:17 Stunden, 15. Platz in der Altersklasse M55 (von 73) und gesamt 404. Mann von ingesamt 1286 Jungs.

Das Finish

Den schönen Finisher-Medaillen sieht man nicht an, dass Sie aus Schrott produziert wurden, genauer gesagt aus Elektroschrott, ein Beitrag der Veranstalter zur Nachhaltigkeit, der sich immer mehr Sportveranstalter verschreiben. Geziert wird die Medaille von einer Schwalbe. Warum? Weil die Schwalbe dar Nationalvogel Estlands ist. By the way, Deutschland hat keinen offiziellen Nationalvogel, wenngleich ein Adler das deutsche Wappen ziert.

Nach dem Motto: „Etwas ist nur geschehen, wenn es auch auf Strava hochgeladen wurde“, erledigte ich meine Social Media Pflichten noch am Nachmittag, in der Sonne vor einem Kiosk mit hervorragendem Espresso sitzend, links von Gisela und mir ein Schwede, der vom 5:0 Sieg der Schweden im Fußball gegen Estland am Vortag schwärmte.

Am Abend checkte ich erstmals die Strava-Kommentare und siehe da, einer erfolgte in Englisch: „Well done! Thank you for the push around 30k!“, geschrieben von Eira aus Tromsø. Die Blonde hatte für mich jetzt einen vollständigen Namen, eine Nationalität und sie hatte eine neue persönliche Marathonbestzeit. Auch well done. 

96 Stunden in Tallinn

Wir erlebten Tallinn etwa 96 Stunden lang. Halbmarathon und Marathon. Die üblicherweise zwei bis vier Stunden Halbmarathon und Marathon sind für Gisela und mich immer nur der schöne Anlass für die Reise, um ein neues Land, eine neue Stadt zu entdecken. So erkundeten wir am Donnerstagabend noch das Fotografiska Viertel mit seinen vielen Künstlern, großartigen Graffitis und vielfältigen Restaurants, Bars und Cafes. Es folgt meine Insta-Bildergalerie vom Donnerstagabend:

Am Freitagmorgen machte ich einen ersten kleinen Erkundungslauf durch Tallinn, gefolgt von neuen Freunden aus Kenia:

Freitagvormittag holten wir unsere Startunterlagen ab und erkundeten die Altstadt:

Nachmittags schlenderten wir durchs Rotermann Viertel:

Nach einer guten Nacht genoss ich samstags einen Guten-Morgen-Lauf:

Estland war nach Lettland das zweite Land der drei baltischen Staaten, das Gisela und ich anlässlich unserer Marathon- und Halbmarathon-Hauptstadtläufe bereist haben. Wir freuen uns, beizeiten auch Litauen kennenzulernen und in Vilnius am Start zu stehen. 

Auch dir liebe Leserin, lieber Leser, wünsche ich noch viele tolle Lauferlebnisse, sehr gerne auch mit Gisela und mir zusammen bei einer Reise zum Mallorca Halbmarathon Marathon im Herbst oder Palma Halbmarathon im Frühjahr. Was denkst du darüber?

Dein Andreas Butz

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